MARTIN KALUSCHE
»Das Schloß an der Grenze«. Kooperation und Konfrontation
mit dem Nationalsozialismus in der
Heil- und Pflegeanstalt für
Schwachsinnige und Epileptische Stetten i. R.
, Hamburg 22011
520 S. ▫ 38,00 € ▫ ISBN 978-3-00-035666-7

»›Das Schloß an der Grenze‹ nannten sie es jetzt dort. An der Grenze zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Leben und Tod…« In kritischer Auseinandersetzung mit einem idealisierenden Geschichtsbild stellt der Autor auf der Basis einer außergewöhnlich guten Quellenlage die Frage nach Kooperation und Konfrontation mit dem Nationalsozialismus in der Anstalt Stetten und beantwortet sie in drei Schritten.
Teil 1 der Studie gilt dem Alltag im Dritten Reich, wobei deutlich wird, dass sich die württembergische Einrichtung der Inneren Mission als integraler Bestandteil der NS-Volksgemeinschaft verstand. Der Schwerpunkt der Arbeit (Teil 2) liegt auf den nationalsozialistischen Verbrechen an Menschen mit Behinderungen in der Heil- und Pflegeanstalt. Während die Zwangssterilisierung mit tatkräftiger Unterstützung durch die Leitung vollzogen wurde, traf die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« auf nicht geringen Widerstand. Dennoch wurden im Herbst 1940 323 Menschen mit Behinderungen Opfer der NS-Euthanasie in Grafeneck, die Anstalt selbst wurde beschlagnahmt. Weitere 11 ehemalige Heimbewohner wurden in den folgenden Jahren in Hadamar ermordet; unbekannt ist die Zahl der Menschen, die darüber hinaus der »dezentralen Euthanasie« zum Opfer fielen. Teil 3 versteht sich als ausführlicher Beitrag zur historischen Urteilsbildung. In ihm wird eingehend die Frage nach Widerstand und Schuld diskutiert, eine forschungsgeschichtlich bedeutende Schrift Ludwig Schlaichs aus dem Jahr 1947 gewürdigt sowie schließlich der Bogen zu bioethischen Herausforderungen der Gegenwart gespannt.

Über die regionalgeschichtliche Bedeutung für Diakonie und Kirche in Württemberg hinaus kommt dem »Schloß an der Grenze« eine Schlüsselrolle zu für das Verständnis der deutschen Inneren Mission im Nationalsozialismus.